Renten für die unsichtbare Arbeit

Artikel in der Publikation von AVIVO: L`AVS, un socle à renforcer ! Regards croisés sur les retraites

Zum französischen Originaltext geht es hier entlang.

Von Danielle Axelroud

Das Modell der Altersvorsorge mit drei Säulen – und insbesondere die berufliche Vorsorge – ignoriert die unbezahlte Arbeit weitestgehend, welche grösstenteils von Frauen übernommen wird, und erzeugt damit eine indirekte Diskriminierung, die dem Grundsatz der Gleichstellung widerspricht.

Als die Schweizer Bürgerinnen und Bürger 1972 dem Drei-Säulen-Modell mit grosser Mehrheit zustimmten, schien alles zu passen: Die verheirateten Männer arbeiteten Vollzeit und ohne Unterbrechung, um die Familie zu versorgen, während ihre Frauen zu Hause blieben und sich um die Kinder und den Haushalt kümmerten. Bei Erreichung des Rentenalters erhielt der Mann neben der eigenen AHV-Rente eine Ergänzung für seine jüngere Ehefrau und später eine Ehepaar-Rente. Seit der Einführung des BVG trug die Rente aus der beruflichen Vorsorge zu den finanziellen Mitteln eines Paares bei.

Seither hat sich die Gesellschaft verändert. Der Grundsatz der tatsächlichen und rechtlichen Gleichstellung zwischen Männern und Frauen wurde in die Verfassung aufgenommen.1 Mit der 10. AHV-Revision wurde den Frauen – und insbesondere den verheirateten Frauen – eine eigene Rente gewährleistet. Seither werden mit dem Splitting2 die unterschiedlich hohen Einkommen des Paares ausgeglichen und durch die Gutschriften für Kindererziehung und Pflege3 wird die unbezahlte Arbeit in der Familie zumindest teilweise berücksichtigt. Dies hat dazu geführt, dass die durchschnittlichen AHV-Renten von Frauen und Männern praktisch gleich hoch sind.

Riesige geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Renten

Die Leistungen, die Frauen im Rentenalter heute aus den drei Säulen erhalten, sind mehr als ein Drittel tiefer als die der Männer: Gemäss dem letzten Bericht des Bundesrats als Antwort auf das Postulat von Marti4 betrug der Rentenunterschied zwischen Frauen und Männern im Jahr 2020 34,6 Prozent. Dies sind durchschnittlich knapp
20 000 Franken pro Jahr.5

Das Problem liegt bei der beruflichen Vorsorge. Auch heute noch ist rund ein Viertel der Frauen nicht beitragspflichtig. Und im Durchschnitt betragen die an Frauen ausgeschütteten Renten aus der beruflichen Vorsorge nur etwas mehr als die Hälfte jene der Männer.6 Auch wenn die Unterschiede kleiner werden, bleibt die grosse Ungleichheit bestehen: Das von Frauen gesparte BVG-Kapital beträgt nach wie vor weniger als die Hälfte desjenigen von Männern. Nach geltendem Recht könnten Frauen Renten erhalten, die mit denen der Männer vergleichbar sind, dazu müssten sie einfach nur einer lukrativen Vollzeitbeschäftigung ohne Unterbrechung der Berufstätigkeit nachgehen.

Einfach gesagt! Aber wer würde sich dann um die nicht bezahlten Aufgaben kümmern, die bisher hauptsächlich von Frauen übernommen werden? Das Arbeitsvolumen ist gigantisch.

Die unbezahlte Arbeit fehlt im System der beruflichen Vorsorge komplett

Die gesamte unbezahlte Arbeit, das sind Jahr für Jahr mehr als 9 Milliarden Arbeitsstunden7 – also deutlich mehr als das Arbeitsvolumen der bezahlten Arbeit, das nicht einmal 8 Milliarden Stunden erreicht.8

Fast die ganze unbezahlte Arbeitszeit wird dem Haushalt, der Familie und der Pflege gewidmet. Die Freiwilligenarbeit ist nebensächlich.

Aktuell arbeiten Frauen durchschnittlich 2/3 ihrer Arbeitszeit unbezahlt. In anderen Worten: Sie gehen während eines Drittels der Zeit einer bezahlten Tätigkeit nach und widmen die anderen zwei Drittel unbezahlter Arbeit, vor allem dem Haushalt, der Familie und der Pflege.

Wenn man bedenkt, dass die berufliche Vorsorge auf der Erwerbstätigkeit basiert, dann erstaunt es nicht mehr, dass die Renten der Frauen so mickrig sind. Dies ist nicht grundsätzlich eine Frage des Geschlechts. Denn Männer, die zu Hause bleiben, während ihre Frauen eine bezahlte Vollzeitkarriere verfolgen, finden sich bei Erreichung des Rentenalters in der gleichen Situation wieder: mit einer miserablen Rente. Es ist eine Frage der Wertschätzung der Aufgaben im Haushalt, in der Familie und der Pflege, die bei der Ausarbeitung des Drei-Säulen-Modells unter den Teppich gekehrt wurde – die Frauen kümmerten sich darum, das war selbstverständlich, und solange die Altersvorsorge des Mannes gewährleistet war, war vermeintlich alles in bester Ordnung.

Ein patriarchales Modell, das ausgedient hat

Heutzutage hat dieses patriarchale Modell ausgedient. Frauen und Männer haben die gleichen Rechte. Frauen und Männer arbeiten durchschnittlich gleich viel – die Frauen hauptsächlich im unbezahlten Bereich und die Männer hauptsächlich im bezahlten.

Gleich viel Arbeit, gleiche Rente? Nein. Beim Eintritt ins Rentenalter führt die ungleiche Aufteilung der unbezahlten und bezahlten Arbeit zu einer deutlichen Ungleichheit, die gewiss erklärt werden kann: Im Allgemeinen werden unterschiedliche Erwerbsbiografien, Lohnunterschiede oder Teilzeitarbeit in den Vordergrund gerückt. Ich schlage eine andere Erklärung vor: Das System der beruflichen Vorsorge ist die Ursache, denn es ignoriert den Haushalts- und Familienbereich komplett.

Das Resultat: Viele Frauen im Rentenalter leben mit knappen Mitteln. Eine von 9 Rentnerinnen bezieht Ergänzungsleistungen. Bei den Männern ist es einer von 16. Das ist eine indirekte Diskriminierung,9 die der Rechtsgleichheit zwischen Frauen und Männern im Artikel 8 der Bundesverfassung widerspricht. Es ist das System der beruflichen Vorsorge, das diese Diskriminierung verursacht.

Eine unlösbare Gleichung

In der Kampagne zur Reform der AHV, die zur Erhöhung des Rentenalters der Frauen führte, wurden Versprechungen gemacht10: Bei der BVG-Reform (Bundesgesetz über die obligatorische berufliche Vorsorge11) würden Wege gefunden, die Renten der Frauen zu verbessern. Dies hat zu hitzigen Debatten im Bundeshaus geführt und das Resultat löst keinerlei Enthusiasmus aus: Die Beiträge sollen steigen, die Renten weiter sinken. Das Referendum kam mit zahlreichen Unterschriften zustande und im nächsten Frühling werden die Schweizer Bürgerinnen und Bürger abstimmen.

Die Wirklichkeit sieht so aus – das sollte inzwischen allen klar sein –, dass jegliche Bemühung, die berufliche Vorsorge so zu reformieren, damit Frauen gleich hohe Renten wie die Männer erhalten, von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Denn die berufliche Vorsorge basiert auf der bezahlten Arbeit, der die Frauen im Durchschnitt nur einen Drittel ihrer Arbeitszeit widmen. Eine Gleichung, die unmöglich zu lösen ist.

Es braucht einen Paradigmenwechsel für ein Altersvorsorge-Modell, das die Rechtsgleichheit respektiert

Ein Nein zur BVG-Reform im nächsten Frühling könnte unsere Politikerinnen und Politiker dazu anspornen, endlich grundsätzlich über das Schweizer Altersvorsorge-System nachzudenken. Wie weiter oben dargelegt, schafft das Drei-Säulen-Modell eine indirekte Diskriminierung zwischen Frauen und Männern und verletzt damit den Grundsatz der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter. Vielleicht war es eine gute Idee in den 60er-Jahren, aber jetzt muss das Modell fundamental überprüft werden.

Die AHV kompensiert, wie weiter oben erwähnt, die Unterschiede im Einkommen eines Paares und berücksichtigt die unbezahlte Erziehungs- und Pflegearbeit. Die Beiträge und die Leistungen sind für alle gleich. Das ist ein einfaches, effizientes und wirtschaftliches System, das mit 25 Franken Verwaltungs- und Durchführungskosten pro versicherte Person auskommt. Warum weitersuchen?

Es würde reichen, die obligatorische berufliche Vorsorge zu vergessen (eine private und freiwillige berufliche Vorsorge könnte weiterbestehen) und die Leistungen der AHV zu verdoppeln. Die durchschnittlichen AHV-Renten würden dann beinahe 4 000 Franken monatlich betragen, was ein bescheidenes, aber würdevolles Leben ermöglicht. Das Budget der Ergänzungsleistungen würde dadurch entlastet, ebenso die Kantons- und Gemeindehaushalte, die sich wachsenden Ausgaben für die Gesundheit und Pflege älterer Menschen stellen müssen.

Beim Wechsel vom aktuellen System zum neuen Modell stellen sich natürlich Übergangsprobleme. Es gibt Ansätze, um sie zu lösen, sie wurden 2020 im Artikel «Retraites : réflexions hors-piste» in der Nummer 2299 von Domaine Public beschrieben.12 Auch eine parlamentarische Initiative machte kürzlich dahingehende Vorschläge: Für einen gesicherten, solidarischen und umweltbewussten Ruhestand.13 Leider hat ihr der Nationalrat keine Folge gegeben.

Diese Überlegungen sind absolut zwingend, wenn das Problem der Rentenungleichheit von Frauen und Männern wirklich angepackt werden soll. Diesen Weg einzuschlagen heisst, den immensen Beitrag der unbezahlten Arbeit für die Gesellschaft anzuerkennen und den Menschen, die ihre Zeit, ihre Energie und ihre Kreativität zur Verfügung stellen, würdige Renten zuzugestehen.

Der Artikel Des rentes pour le travail invisible wurde erstmals in der Sonderausgabe vom September 2023 der Publikation von AVIVO veröffentlicht: L`AVS, un socle à renforcer! Regards croisés sur les retraites, S. 79 – 82.

Erstveröffentlichung: Blog Economyfeministe