Text verfasst von Christine Rudolf
„Es müssen Wälle für Aufstellung von Mannschaften gebaut werden und Schießschartenveingeschnitten; ferner vor der Thoren Gräben ausgehoben, Zugbrücken angelegt, Deckwerke neu errichtet, Kanäle überbrückt und mit Brustwehren angeschüttet, Pulvermagazine gebaut, und auf der Seine eine Flotille von Kanonenbooten aufgestellt werden. Welches Fieber von Thätigkeit, welcher Aufwand von Anstrengung und Fleiß; welche riesige Kosten von Arbeit und Geld! Wie das alles, für Werke der Gemeinnützigkeit verwendet, erfreulich und erhebend wäre – aber für den Zweck der Schadenzufügung, der Vernichtung – welche nicht einmal Selbstzweck, sondern strategischer Schachzug ist – es ist unfasslich!“
(Bertha von Suttner, Die Waffen nieder.Eine Lebensgeschichte, Dresden, Leipzig und Wien (E. Piersons Verlag) 1. Aufl. 1889, 25. Tausend, S.274)
Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 schien klar: Deutschland muss aufrüsten, mit einem „Sondervermögen“ vom 100 Milliarden Euro, ausgelegt auf fünf Jahre. Ist aber eine so große Investition in die Aufrüstung eines
einzelnen NATO-Landes überhaupt vernünftig? Stehen dahinter nicht reflexartige Rückgriffe auf veraltete Doktrinen aus der Zeit des Kalten Krieges? Und: Was könnte mit 100 Milliarden Euro für eine Care-zentrierte Politik erreicht werden?
Der Krieg in der Ukraine scheint die Vorstellung über die europäische Zivilisation und ihre Werte nach 1945 wesentlich verschoben zu haben. Waren wir Europäer*innen doch bis vor kurzem noch überzeugt, auf einem Kontinent mit einer friedlichen Zukunft zu leben. Zwar wurden im ehemaligen Jugoslawien von 1991 bis 19992 mehrere Kriege geführt, und die Konflikte dort sind bis heute nicht vollständig beigelegt. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und der heutigen Situation scheint aber darin zu bestehen, dass nun mit Putins Russland eine ehemalige Macht des Kalten Krieges als Aggressor auftritt. Ob diese Interpretation zutrifft, die eine viel weiter gehende Bedrohung für West- und Mitteleuropa impliziert als die Kriege auf dem Balkan, müsste nun ausführlich überprüft werden. Eine solche Überprüfung ist aber hier weder unsere Absicht noch können wir sie im Rahmen dieses Textes seriös leisten.
Es geht uns um eine andere Frage: Ist die schnelle Reaktion der Bundesregierung, auf die neue Bedrohung mit erheblichen nationalen Verteidigungsanstrengungen, konkret: mit einem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr samt einer Aufstockung des regulären Wehr-Etats zu reagieren, ausreichend begründet? Und wenn nicht, was könnten wir mit so viel Geld, das verfügbar ist, denn sonst realisieren? Haben wir in den Jahren der Pandemie nicht gelernt und beschlossen, dass für eine friedliche und sichere Zukunft vor allem ein resilientes Gemeinwesen notwendig ist? Und hat uns die lange Tradition des Pazifismus in Europa, begründet etwa von Bertha von Suttners Streitschrift „Die Waffen nieder!“, nicht gelehrt, dass wir anderes brauchen als immer noch mehr Waffen?
100 Milliarden Euro Sondervermögen, wofür genau?
Mit der neuen Bedrohungslage scheinen reflexartig alte Ängste aus der Zeit des Kalten Krieges neu aufgerufen zu werden, und damit auch die Annahme, es brauche notwendigerweise ein Gleichgewicht des Schreckens (mutually assured destruction: MAD). Wohl deshalb entstand kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine in Berlin
sehr schnell diese Idee, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für fünf Jahre aufzulegen, um die Bundesrepublik im Sinne der MAD-Doktrin aufzurüsten. Gleichzeitig soll der Wehr-Etat, der unter der Verteidigungsministerin von der Leyen (2013 bis 2019) schon erhebliche Vergrößerungen erfahren hat3 , weiter aufgestockt werden. Dabei waren im Jahr 2021 für die Bundeswehr schon 46 Milliarden Euro vorgesehen, die im neuen Entwurf auf 50 Milliarden Euro angehoben wurden.
Kann aber eine Aufrüstung mit nichtnuklearen Waffen dem scheinbar notwendigen Gleichgewicht des Schreckens4 überhaupt dienen, wenn doch die MAD-Doktrin ausdrücklich auf der Abschreckung durch Atomwaffen beruht? Müsste ein Gleichgewicht anderer Waffengattungen sich für ein Mitglied der NATO nicht eigentlich erübrigen? Schließlich träte mit einem Angriff Russlands in ein NATO-Land automatisch der Bündnisfall ein, und damit die Beistandspflicht aller 29 NATO-Mitglieder, weshalb logischerweise alle Waffen der NATO zusammengezählt werden müssten. Im Übrigen ist das in der NATO im Sinne einer Selbstverpflichtung vereinbarte Ziel, einen Anteil von zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben vorzusehen, mit dem Haushaltsplanentwurf 2022 in Deutschland nahezu erreicht.
Die 100 Milliarden Sondervermögen für Zwecke der Selbst-verteidigung, die sogar einer Grundgesetzänderung bedürften, scheinen also eher einem Reflex zu entspringen als einer realistischen Sicht von Friedensförderung. Nicht zuletzt die Publikationen, die in den Jahren 2014-2018 zur Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkriegs erschienen sind, machen deutlich, dass die Aufrüstung in allen damaligen Nationalstaaten (neben anderen Ursachen) „quasi zwangsläufig in diesen Krieg mündeten“.5
100 Milliarden Euro anders investiert. Ein Vorschlag
Was könnte Deutschland sich eigentlich leisten, wenn es beschließen würde, 100 Milliarden Euro nicht in Aufrüstung, sondern anders zu investieren? – Um eine Vorstellung vom Wert dieses riesigen Betrags zu entwickeln, haben wir einen konkreten fünfteiligen Vorschlag erarbeitet, wie sich ein Betrag von 100 Milliarden Euro im Sinne von Resilienz, Care und Friedensförderung einsetzen ließe. Wir gehen dabei davon aus, dass die Mittel aus dem Programm NextGeneration der EU hauptsächlich in die Forschung und den Ausbau einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur fließen werden, weshalb wir uns vor allem auf andere Bereiche konzentrieren, vor allem solche, die angesichts der starken Exportorientierung der deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten sträflich unterfinanziert waren:
Projekt 1: Erhalt von Geburtsstationen im ländlichen Raum
Der ländliche Raum ist durch fehlende Investitionen und Abwander-ungsbewegungen strukturell unterversorgt. Es fehlen medizinische Infrastruktur, öffentlicher Verkehr und vieles mehr. Gleichzeitig ist die Diskussion über die Zukunft unserer Krankenhauslandschaft im vollem Gange. Bevor ein Krankenhaus im ländlichen Raum ganz geschlossen wird, fallen oft einzelne Abteilungen dem Kostendruck zum Opfer. In der Regel betrifft es die Geburtsstationen. In
der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass es möglich ist, die vorsorgliche Freihaltung von Kapazitäten für Intensivbetten zu gewähren. Das wäre, bei entsprechender6 Finanzierung, auch für die Vorhaltung von Kapazitäten für Geburten im ländlichen Raum
möglich. Fakt ist aber, dass in den vergangenen Jahren Geburts-stationen eher geschlossen wurden, mit steigender Tendenz. Für Gebärdende bedeutet dies, dass sie bis zur Klinik, in der sie stationär gebären können, immer weitere Wege in Kauf nehmen
müssen, zumal die Alternative einer Hausgeburt aufgrund der Repressionen, unter denen niedergelassene Hebammen zu leiden haben, kaum noch zur Verfügung steht. Solche weiten Wege zur Gebärstation sind gefährlich und zermürbend, zumal nicht wenige
Schwangere mehr als einmal ins Krankenhaus fahren müssen und dann wieder nach Hause geschickt werden. Auch die Organisation des Familienlebens wird durch die weiten Entfernungen erschwert. Eine flächendeckende Versorgung des ländlichen Raums mit
Geburtsstationen würde Gefahren minimieren und Lebensqualität für Frauen, Familien und Kinder schaffen.7
Projekt 2: Ausweitung von Sozialpädagogischen Zentren (SPZ) auf Erwachsene
Die Zahl der Menschen mit angeborenen und erworbenen Behinderungen steigt. 8 Nachdem Deutschland im Jahr 2008 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung unterzeichnet und ratifiziert hat, wurden in den vergangenen Jahren zwar einige Anstrengungen unternommen, Inklusion ernst zu nehmen. Trotzdem braucht es weitere Strukturen, um Menschen mit Behinderung zu fördern. Wird beispielsweise bei einem Neugeborenen eine Behinderung festgestellt, können die erwachsenen Bezugspersonen ein Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) aufsuchen, um sich diagnostische, therapeutische und soziale Beratung und Begleitung zu organisieren. SPZs sind in der Regel an Kliniken angeschlossen und bieten ein breites Spektrum an
medizinischem und therapeutischem Personal. Der interdisziplinäre Ansatz stellt das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt. Doch mit dem achtzehnten Lebensjahr endet diese Begleitung. Die Menschen mit Behinderung und ihre Betreuenden sind nun auf sich selbst
gestellt. Niedergelassene Hausärztinnen- und Hausärzte oder Orthopäd*innen haben meist wenig Kompetenz und Zeit, um sich in die spezifischen Bedürfnisse der erwachsenen Personen mit Beeinträchtigungen einzuarbeiten. Selbst eine zahnärztliche
Behandlung zu finden, ist oft schwer. Erst wenn ein hohes Lebensalter erreicht ist, kommen geriatische Zentren, die wiederum in Kliniken integriert sind, zum Einsatz. Es braucht deshalb für Menschen mit Beeinträchtigungen in allen Lebensaltern ganzheitliche Anlaufstellen. Mit entsprechenden Finanzmitteln könnten die SPZs ausgebaut werden. Menschen mit Beein-trächtigungen und betreuende Angehörige sind dringend auf diese Entlastung in ihrer Care-Arbeit angewiesen, die sie zum großen Teil unbezahlt leisten.
Projekt 3: Gute Infrastruktur für eine wachsende Bevölkerung
Es gibt wachsende Bevölkerungsteile, die auf Grund der Umverteilung von unten nach oben in den vergangenen Jahrzehnten und durch Corona verarmt sind. Die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahre wird diese Situation noch einmal verschärfen.
Inflationsbedingte Preissteigerungen sind mit Harz IV-Bezügen oder niedrigem Einkommen nicht zu stemmen. Neben den bereits beschlossenen, ungenügenden Einmal-Zahlungen in diesem Jahr brauchen Menschen mit niedrigen Einkommen oder Trans-ferleistungen öffentlichen, nicht an Konsum gebundenen Raum, in den sie sich einbringen können. Das gilt für Jugendliche und Erwachsene in gleichem Maße. Nicht nur die bezahlbaren warmen eigenen vier Wände sind wichtig, sondern auch nahe, zugängliche, gute Infrastruktur und Möglichkeiten der Begegnung und Erfahrung im öffentlichen Raum.
Projekt 4: Präventive Entwicklungshilfe
Prävention steht in der Entwicklungshilfe vor dem Notfall-Einsatz. Das ist nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten geboten. Langfristig lässt sich nachweislich mit weniger Geld mehr erreichen. Hilfe zur Selbsthilfe in Bezug auf die Ernährungsgrundlage lindert
nicht nur den Hunger, sondern trägt auch insgesamt zur Entwicklung in einer Region bei. Ist der Lebensinhalt nicht mehr durch Hunger und Not bestimmt, können Bildung und Gesundheit zur Entwicklung beitragen. Der Krieg in zwei Ländern des Eurasischen Kontinents, der weltweit mit seinen schwarzen Erden über die größten und
ertragreichsten Flächen für Getreide verfügt, führt zu einer drohenden Hungersnot in vielen Teilen der Erde, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Neben der kurzfristigen Hilfe bei der Verteilung von Nahrungsmitteln müssen auch langfristig funktionierende Strukturen aufgebaut werden, wobei derzeit niemand weiß, wie lange die Auseinandersetzung noch andauern wird und welche Folgen auch ein Waffenstillstand oder militärischer Frieden auf den Anbau von Weizen haben wird. Es braucht deshalb
dringend Investitionen in die globale Versorgungssicherheit.
Projekt 5: Ökonomische Friedensforschung
Friedensforschung darf sich nicht mehr alleine auf die Verhinderung von militärisch geführten Auseinandersetzungen und deren Vermeidung konzentrieren. Wir befinden uns längst in einem weltweit geführten Wirtschaftskrieg, in dem militärische Konflikte auch genutzt werden, um wirtschaftliche Beziehungen grundlegend zu verändern. Wer Ökonomie und Frieden nicht zusammen denkt, wird in den nächsten Jahren immer wieder überrascht werden von militärischen Konflikten, die nur scheinbar von „verrückten“
Machthabern im Alleingang ausgelöst wurden. Es müsste im Sinne einer friedlichen Entwicklung zumindest ein europäisches öko-nomisches Friedensforschungsinstitut geschaffen werden, das solche Zukunftsszenarien ernsthaft mit zeitgemäßen Methoden erforscht.
100 Mrd. Euro für eine friedliche Zukunft
Maßnahmen | Mittel | Art der Finanzierung |
Geburtsstationen im ländlichen Raum | 15 Mrd. Euro | Absicherung der bestehenden Geburtskliniken, die unter 500 Geburten im Jahr verzeichen über eine Ausfallfinanzierung. |
Ausbau von SPZs für alle nicht betagten Menschen mit Beeinträchtigung | 10 Mrd. Euro | Schrittweiser Ausbau der bestehenden 140 SPZs für Menschen im Erwachsenenalter |
Infrastruktur für eine wachsende Bevölkerung | 30 Mrd. Euro | Wohnungen, Kinderbetreuung, Schulen, Spielplätze, Schwimmbäder, Sporthallen, Jugendräume, Nachbarschaftsräume, Öffentliche Toiletten, kostenloser OPNV, Kultur für alle |
Langfristige Entwicklungshilfe | 25 Mrd. Euro | |
Ausbau einer ökonomischen Friedensforschungsinfrastruktur | 20 Mrd. Euro | Aufbau eines unabhängigen Instituts in Form einer Stiftung |
Fußnoten:
1 730 Mio. Euro, Sondervermögen gibt es drei, das vierte für das Militär ist im Entwurf angekündigt, 7 Mrd. Euro für Digitale Infrastruktur, 106 Mrd. Euro für Energie- und Klimafonds, 15 Mrd. Euro Aufbauhilfe 2021
2 1991 Slowenien, 1991- 1995 Kroatien, 1992-1995 Bosnien und 1999 Kosovo.
3Im Jahre 2014 betrug der Bundesetat 32,4 Mrd. Euro, im Jahre 2019 lag er schon bei 43,23 Mrd. Euro. Quelle: https://www.bmvg.de/de/themen/verteidigungshaushalt/entwicklung-undstruktur-des-verteidigungshaushalts, 23.03.2022
4 YouTube Erklärvideo: Gleichgewicht des Schreckens https://www.youtube.com/watch?v=FB-lB0lcBFA, 23.03.2022
5 Zeit-Online: Je eher, desto besser: https://www.youtube.com/watch?v=FB-lB0lcBFA, 5
23.03.2022
6 Höhe der Ausgleichszahlung: Die vom Land bestimmten Krankenhäuser erhalten Ausgleichszahlungen für 90% der freien Kapazitäten im Vergleich zur durchschnittlichen
Auslastung in 2019.
7 Siehe auch: Das Deutsche Gesundheitswesen: https://makronom.de/das-deutsche- 7
gesundheitswesen, 03.04.2022
8 Destatis: Entwicklung Schwerbehinderter Menschen: https://www.destatis.de/DE/Themen/ 8
Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/Tabellen/geschlecht-behinderung.html,
03.04.2022