Zahl 3: 380

380 Milliarden Euro(1)

Frauen und Männer gehen im erwerbsfähigen Alter meist einer bezahlten Arbeit nach und sie leisten unbezahlte Arbeit im Haushalt für Kochen, Putzen, Wäsche waschen und vieles mehr. Aber ihre Einkommen klaffen weit auseinander. Frauen erhalten pro Jahr nicht einmal die Hälfte von dem, was Männer als Erwerbseinkommen erzielen. Deutschland gehört damit zu den drei Ländern in Europa mit der größten Einkommenslücke, dem so genannten Gender Overall Earnings Gap (GOEG).(2)


Der Vergleich zwischen Einkommen und Arbeitsbelastung zeigt, wie wichtig in der Analyse der Wirtschaft eine gesamtwirtschaftliche Rechnung sowohl in Geld als auch in Stunden ist – jedenfalls aus der Sicht von Frauen. Eine solche Rechnung in den beiden „Währungen“ Geld und Zeit ist eine wichtige analytische Grundlage der feministischen Ökonomietheorie. Frauen arbeiten wesentlich mehr unbezahlt als Männer und wenn sie gegen Bezahlung arbeiten, sind sie generell schlechter bezahlt. In vielen Ländern arbeiten Frauen im Erwerbsalter zudem bedeutend länger als Männer: In Deutschland arbeiten Frauen in der Woche eine Stunde länger als Männer, wenn die bezahlte und die unbezahlte Arbeit zusammengezählt werden. Daran hat sich in den vergangenen 30 Jahren, seit 1992 die erste Zeitverwendungserhebung (ZVE) durch das Statistische Bundesamt durchgeführt wurde, nichts Wesentliches geändert.

Wichtig ist es zu verstehen, dass Frauen im Verlauf ihres Lebens sehr unterschiedlich mit unbezahlter Arbeit belastet sind und daher nicht im gleichen Maß über Zeit verfügen, um voll erwerbstätig sein zu können. Realistischer wäre es anzunehmen, dass Frauen sowohl knapp an Zeit als auch an Geld sind (siehe auch Zahl 2). Diese Realitäten führen volkswirtschaftlich gesehen zu der enormen Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern. In Wirtschaftstheorie und -politik wird unbezahlte Arbeit als beliebig verfügbar angenommen, weil sie nichts kostet. Sie wird nicht als ein wesentlicher ökonomischer Faktor des Lebensstandards in Betracht gezogen, ebenso wenig, dass Zeit eine beschränkte Ressource für jeden Menschen ist.

Geld ist Macht: Geldknappheit führt zu mangelnder Verfügungsgewalt über die eigene Zeit, über andere wirtschaftliche Ressourcen und über die materiellen Rahmenbedingungen, die unseren Alltag prägen. Mit Geld lässt sich die Arbeit und damit die Zeit anderer Menschen kaufen. Geldknappheit betrifft die große Mehrheit der Frauen. Sie betrifft im Übrigen auch die Budgets von zivilgesellschaftlichen Frauenorganisationen ebenso wie die öffentlichen Gelder, die für Frauenforschungs- und Förderprojekte zur Verfügung stehen. Auf allen Ebenen werden Frauen in Deutschland finanziell sehr knapp gehalten.

Die neue Frauenbewegung hat nicht nur verlangt, dass bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen Frauen und Männern ungefähr gleich verteilt ist, sondern auch dass Frauen – unabhängig von ihren Partner:innen – ungefähr über gleichviel Geld verfügen wie Männer, sei es auf persönlicher Ebene oder im öffentlichen Bereich. Beide Forderungen sind bisher noch wenig auf der politischen Ebene angekommen. Auch in aktuellen nicht-feministischen wirtschafts- und sozialpolitischen Zukunftsdebatten fehlen diese Forderungen gänzlich. In den 380 Milliarden Euro Einkommenslücke spiegeln sich also zentrale Aspekte der Benachteiligung von Frauen wieder, wie sie seit den 1970er Jahren thematisiert werden. Es geht um ungleiche Löhne und Gehälter, Ausbeutung der Frauen, um das Machtgefälle und -gefüge zwischen Männern und Frauen und darum, dass es viel unbezahlte Arbeit gibt, die vor allem von Frauen verrichtet wird und die getan werden muss.

Die Berechnung des Index zum gesamten Einkommensunterschied von 380 Milliarden Euro beruht statistisch auf zwei Größen:

  • Gender Pay Gap: In Deutschland verdienten Frauen 2014 durchschnittlich pro Erwerbsstunde 22,3 Prozent weniger als Männer. Das macht etwa ein Viertel der gesamten Einkommenslücke von 380 Milliarden aus. Im Jahr 2020 waren es immer noch 18 Prozent.
  • Gender Care Gap: Frauen arbeiten mehr Stunden unbezahlt, Männer mehr bezahlte Stunden. Diese soziale Arbeitsteilung hat einen Anteil von etwa drei Vierteln der Einkommenslücke.

Wenn die unbezahlte Hausarbeit, die Frauen mehr leisten als Männer, angemessen bezahlt würde, dann gäbe es diesen Teil der Einkommenslücke nicht. Wie enorm viel Einkommen den Frauen im Vergleich zu den Männern fehlt, zeigt sich an folgenden Vergleichen:

  • Mit den 380 Milliarden Euro ließe sich jeder erwerbstätigen Frau ab dem Alter von 15 Jahren ein Einkommensausgleich von ca. 6.000 Euro jährlich bezahlen.
  • Würden die 380 Milliarden ausschließlich an Haushalte mit Kindern (im Alter von 0 – 18 Jahren) im Jahr 2014 verteilt werden, bekäme jeder Haushalt 47.500 Euro.(3)

Quellen und Berechnung der 380 Milliarden

Bei den 380 Milliarden Euro pro Jahr handelt es sich um eine sehr vorsichtige Schätzung für die Einkommenslücke bei den Bruttolöhnen und Gehältern. Sie bezieht sich auf die erwerbstätigen Frauen und Männer, die in Deutschland wohnen. Diese Größenordnung dürfte auch für das Jahr 2019 aktuell sein. Auch wenn dieser Betrag eine Minimalgröße darstellt, ist er enorm.

Die gerundete Zahl soll zeigen, dass es sich um eine Schätzung handelt. Das Bundesamt für Statistik könnte sie genauer berechnen und die Zahlen jedes Jahr ausweisen. Die Schätzung der 380 Milliarden beziehen sich auf das Jahr 2014. Es stehen zwei Quellen zur Verfügung:

  • Eurostat: Im Jahr 2017 veröffentlichte Eurostat(4) die Berechnung des Index für die „Geschlechterspezifische Gesamteinkommensunterschiede“ (GOEG(5)). Es handelt sich um einen Index (45,2 % für Deutschland), in dem in Prozenten berechnet wird, wieviel im Durchschnitt eine erwerbstätige Frau pro Jahr weniger verdient als ein Mann. Dieser Unterschied wird als Prozentsatz des Einkommens der Männer berechnet. Dabei wird nicht nur das Lohngefälle mit einberechnet, sondern auch die Tatsache, dass Frauen weniger Stunden Erwerbsarbeit leisten als Männer. Diese Statistik hat einen großen Vorteil: Sie beruht auf international vergleichbaren Schätzungen. Deutschland gehört zu den Ländern mit dem höchsten GOEG-Index. Als Grundlage der Schätzung in Euro dient das Arbeitnehmer:innen-Entgelt.(6)
  • Arbeitnehmer:inneneinkommen: Der Index von Eurostat beruht auf der Erwerbstätigkeit und dem Erwerbseinkommen (aus Löhnen und Gehältern) der Personen im erwerbsfähigen Alter (15-64). Das Arbeitnehmer:inneneinkommen, die Grundlage der Schätzung, beruht aber auf allen Einkommen aus Löhnen und Gehältern, auch der Personen über 65 Jahren. Die geschlechterspezifischen Lücken bei Renteneinkommen, Einkommen der selbstständig Erwerbenden und aus Vermögen sind nicht mitgerechnet. Ebenfalls nicht eingerechnet sind Brutto-Brutto Beträge, also die Beträge die Arbeitgeber:innen für ihre Beschäftigten ebenfalls in die sozialen Sicherungssysteme einbezahlen und z.B. die zukünftige Rente ebenfalls geschlechtsspezifisch beeinflussen. In Deutschland fußt die Rente auf mehreren Säulen, deshalb ist hier eine Berechnung nicht so einfach zu leisten wie beispielsweise in der Schweiz. Um weitere Unschärfen zu vermeiden, wurde sie deshalb nicht mit einbezogen. Eine Berechnung nach Schweizer Vorbild würde die Einkommenslücke auf 430 Milliarden Euro erhöhen.

Marilyn Waring, Neuseeländische Ökonomin und Politikerin, veröffentlichte Ende der 1980er Jahre das Buch If Women Counted. A New Feminist Economics. Aus ihrer Erfahrung als junge Abgeordnete und Vorsitzende der Revision der Nationalen Buchhaltung, vergleichbar mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), und deren Anpassung an UN-Standards, folgte, wie sie selbst schreibt, ein brutales Erwachen. Alle Dinge, die ihr politisch wichtig waren, waren in diesen Rechnungen und statistischen Analysen nicht enthalten. Die Nationalparks, die Abwesenheit von Atomenergie, aber auch die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die Frauen unsichtbar leisten, werden in der VGR nicht erwähnt. Sie werden in ihrer Bedeutung nicht als Teil des Wirtschaftskreislaufs wahrgenommen und finden deshalb auch keinen Zugang zu finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Diese Verzerrungen, so Waring weiter in ihrem Buch, machen deutlich, wie mit Statistik Politik gemacht wird. Die Geschichte beginnt eben nicht mit Churchills Anekdote, „vertraue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Politik ist bereits die Entscheidung, was erhoben und wie es verbucht wird.

Schon 1995 wurde auf der Weltfrauenkonferenz der UN die Forderung erhoben, nationale Wirtschaftsstatistiken um die Erfassung der unbezahlten Arbeit zu erweitern und sie als Teil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erfassen, weil unbezahlte Arbeit einen wichtigen Teil unseres Lebensstandards ausmacht und deshalb der statistischen Sichtbarmachung bedarf.

Obwohl die Bundesrepublik Deutschland zu den 189 Staaten gehört hatte, die diese Forderung als Voraussetzung einer Gender Budgeting-Analyse unterschrieben haben, ist seither nur wenig passiert. Die statistischen Daten in der Schweiz sind weitaus besser. Seit 1997 werden alle drei bis vier Jahre innerhalb der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) zusätzliche Fragen zur unbezahlten Arbeit gestellt und ein Jahr später veröffentlicht. In der Bundesrepublik Deutschland werden die Daten zur unbezahlten Arbeit nur alle 10 Jahre erfasst und erst einige Jahre nach ihrer Erhebung veröffentlicht. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Zahlen sich nicht so sehr unterscheiden. Auch in Deutschland wird die immense Leistung der Frauen für unsere Gesellschaft nicht ernsthaft gezählt.

Politische Entscheidungen werden auf der Grundlage von Nicht-Wissen gefällt. Dies kann vor allem dann zu fatalen Ergebnissen führen, wenn beispielsweise Kürzungen und Privatisierungen in der öffentlichen. Daseinsvorsorge dazu führen, dass zu erbringende Leistungen in private Haushalte verlagert und dort in aller Regel von Frauen erbracht werden.

Den deutschen Initiatorinnen ist es wichtig, die Dimension der finanziellen Benachteiligung der Frauen in Euro zu beziffern, aber auch die Stunden zu zählen, die Frauen unbezahlt arbeiten. Der Tag hat für alle nur 24 Stunden und Stunden sind nach Marilyn Waring die Währung der Frauen.

Ziel dieser Veröffentlichung ist es, diese großen Zahlen zum Dauerthema in der politischen Öffentlichkeit zu machen und sie in einen wirtschaftspolitisch relevanten Zusammenhang zu bringen. Um zu illustrieren wie unglaublich viele Milliarden es sind, hat Christine Rudolf gemeinsam mit der AG #CloseEconDataGap ebenso große Zahlen wie in andern Bereichen des Wirtschaftens gesucht. Die unglaubliche Menge an unbezahlter Arbeit, die Frauen leisten, wird mit relevanten ökonomischen Vergleichen sichtbar und ihre wirtschaftspolitische Relevanz verständlich gemacht. Zu zählen was zählt, wäre ein wichtiger Beitrag, diese Größenordnungen in das öffentliche und politische Bewusstsein zu bringen und ein großer Schritt zu einer erstzunehmenden Analyse der Verteilungsgerechtigkeit von öffentlichen Haushalten.

Denn der Diskurs um die Erwerbsquote von Frauen und ihre mangelnde Präsenz in Führungspositionen lassen völlig außer Acht, dass dringend ökonomisch und ethisch vertretbare Modelle der Care-Arbeit entwickelt werden müssen. Wenn nicht mehr Frauen diese Arbeit unbezahlt leisten, wer leistet sie dann und zu welchen Bedingungen?

380 – 60– 825 nimmt die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge in den Fokus und liefert damit brisante Informationen für die Öffentlichkeit. Dabei ist nicht nur die Politik, sondern auch die universitäre Forschung in der Pflicht. Nach Ansicht der Initiatorinnen des Projektes wäre es zudem eine Kernaufgabe für die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten, sich mit den ökonomischen Zusammenhängen zwischen monetärer Wirtschaft und den Bereichen der unbezahlten Arbeit zu befassen. Sie fordern, dass die universitäre Forschung dieser Aufgabe endlich nachkommt. Christine Rudolf erklärt: „Bis heute beschränkt sich die Wirtschaftstheorie auf die Analyse der direkt geldgesteuerten Wirtschaft. Der enorme Beitrag der unbezahlten Arbeit für unseren Lebensstandard wird dadurch unsichtbar und als scheinbar unendlich verfügbar angenommen, was nicht realistisch ist. Frauen und Männer arbeiten Vollzeit, Frauen sehr viel mehr unbezahlt und schlechter bezahlt als Männer.“ Und sie fordert: „Diese Tatsache muss endlich Eingang finden in die Wirtschaftstheorien.“

Nach dem Frauen*streik ist vor dem Frauen*streik!

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(1) Laut Eurostat (2014) beträgt der Index für die gesamte Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern 45,2 Prozent (https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-datasets/product?code=teqges01, geprüft 15.03.2021). Das sog. Arbeitnehmerentgelt der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung betrug im Jahr 2014 für Deutschland 1 168 Millarden Euro. Daraus lässt sich errechnen, dass den Männern insgesamt 773 Milliarden Euro an Löhnen und Gehältern ausbezahlt wurden. Der entsprechende Betrag für Frauen beläuft sich auf 395 Milliarden Euro. Zu dieser Einkommenlücke kommen noch Lücken bei den Erwerbseinkommen von selbstständig Erwerbenden und Unternehmer:innen und bei den Renten, die sich ebenfalls auf viele Milliarden Euro belaufen dürften. Somit lässt sich die Einkommenslücke auf 380 Milliarden Euro beziffern. Diese Merkzahl ist nicht nur für 2014, sondern auch für 2019 gültig. Die Berechnung basiert auf Untersuchungen, die Christine Rudolf nach der Vorlage von Mascha Madörins Berechnungen für die Schweiz erstellt hat. Grundlage ist die Zahl der weiblichen und männlichen Erwerbstätigen, die mit dem Durchschnittsbruttolohn, ohne Arbeitgeber:innenanteil in Deutschland multipliziert wurde. In einem zweiten Schritt wurde das Ergebnis mit der durchschnittlich bezahlten Jahresstundenzahl multipiziert. Daraus ergibt sich der montetäre Wert des GOEGs (Gender Overall Earnings Gap, auf Deutsch: geschlechterspezifischer Gesamteinkommensunterschied). Alle Statistiken sind dem Bundesamt für Statistik entnommen.

(2) Der Index beträgt für die Schweiz 44,5 Prozent, für Österreich 44,9 Prozent, für das Vereinigte Königreich 45,0 Prozent, für Deutschland 45,2 Prozent und für die Niederlande 47,4 Prozent. Alle andern Ländern haben einen niedrigeren Index, nur die Türkei liegt wesentlich höher. Im Vergleich: Schweden liegt bei 26,2 Prozent. (Abruf der Daten am 21.05.2019, sie werden laufend ergänzt oder korrigiert. Das Update von Eurostat stammt vom 24.04.2019). Eurostat ist das statistische Amt der EU, die Schweiz ist Eurostat angeschlossen.

(3) Siehe https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Haushalte-Familien/Tabellen/2-5-familien.html, geprüft 14.02.2021.

(4) https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-datasets/product?code=teqges01, geprüft 14.02.2021.

(5) Für „Geschlechterspezifische Gesamteinkommensunterschiede“ wird hier die englische Abkürzung GOEG verwendet, es steht für Gender Overall Earnings Gap.

(6) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1102040/umfrage/durchschnittlicher-bruttostundenverdienst-in-den-laendern-der-eu-in-vollzeit/ und https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/erwerbstaetigenquoten-gebietsstand-geschlecht-altergruppe-mikrozensus.html, geprüft 14.02.2021

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